Der Gott des Betons

Ein Rückblick auf das Lebenswerk von Gottfried Böhm

Auch wenn Gottfried Böhm kein gebürtiger Kölner war, hat er doch seine Kindheit und Jugend hier verbracht, und auch später zog es ihn zurück in die Stadt am Rhein. Sein erstes eigenständiges Bauwerk war die Kölner Kolumba-Kapelle und im Jahre 2009 hat er sich in Zusammenarbeit mit seinem Sohn Paul in Ehrenfeld mit seinem letzten Werk, einem spektakulären Gebäude, verewigt: der Zentralmoschee an der Inneren Kanalstraße, am „Ortseingang“ des Veedels. Neben dem Helios-Leuchtturm ist die Zentralmoschee mit Sicherheit das Ehrenfelder Wahrzeichen und wird es auch für viele Jahrzehnte bleiben. Sie dürfte außerdem die bekannteste Moschee Deutschlands sein.

Wer war Gottfried Böhm?

Gottfried Böhm war kein besonders bekannter Deutscher, aber in der Architekturszene galt er als ein Stan Lee, ein Einstein, ein Beethoven seiner Zunft. Er hat 1986 als erster Deutscher den Pritzker-Preis gewonnen, eine Art Nobelpreis der Architektur, und anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2020 ernannte ihn der Kölner Stadt-Anzeiger auf seiner Titelseite zum „Gott des Betons“. In seiner Heimatstadt Köln war er besonders aktiv: das Maritim, das Technische Rathaus neben der Lanxess-Arena, Christi Auferstehung in Lindenthal, die Kolumba-Kapelle (mittlerweile „neben“ oder „im“ Kolumba-Museum) das Kalker Rathaus, die WDR-Arkaden, sowie die ein oder andere Wohnsiedlung, wie zum Beispiel die Gütergasse in Köln-Zündorf – all diese Bauten stammen von ihm. 

Was macht Gottfried Böhms Werke so außergewöhnlich und warum haben sie zumindest in Deutschland die Architektur des 20. Jahrhunderts derart nachhaltig geprägt?

Dominikus Böhms prägender Einfluss

Gottfried Böhm selbst war schon der Sohn eines Superstars der Architekturszene, ein Fakt, der jedoch im Laufe der Jahrzehnte ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Er ist der Sohn des 1880 geborenen Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm, der es mit seiner Popularität in den 50ern sogar auf den Spiegel-Titel schaffte. Ohne die Vorgeschichte seines Vaters lässt sich der bemerkenswerte künstlerische Weg von Gottfried Böhm kaum erklären. 

Bis zu Dominikus Böhm und seinen geistigen Weggefährten dominierte im Rheinland im Prinzip ein Kirchen-Einheitsbau. Im 19. Jahrhundert stand in jedem Dorf ein Kölner Dom in kleinem Grundriss: Ein neugotisches Langhaus mit einem Querhaus um den Altar zentriert, über dem der Kirchturm in die Höhe ragt. Eben genau so, wie kleine Kinder heute noch klassischerweise Kirchen malen.

Dominikus revolutionierte diese Gewohnheit Anfang des 20. Jahrhunderts: Er integrierte orientalische Elemente in seine Bauten und brachte Details des griechisch-orthodoxen Sakralbaus in seine Entwürfe ein. Seine Kirchen waren bunt, detailverliebt und ornamental. Lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil sorgte Böhm senior also für mehr Farbe und mehr Licht in der zumeist doch recht düsteren Architektur katholischer Kirchen in Deutschland.

Hier in Köln ist sein wichtigstes Werk die 1932 fertiggestellte Kirche St. Engelbert in Riehl, deren Bau das Bistum nur mühsam und unter großem Widerstand gegen Rom mit einer Präsentation vor Ort beim Papst durchsetzen konnte. Wer die Kirche schon einmal in natura oder auf Fotos gesehen hat, kann sich vorstellen, wie die sicher weltoffenen, aber eben auch erzkatholischen Kölner:innen auf dieses Gebäude in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts reagiert haben. Selbst im 21. Jahrhundert wirkt sie noch unkonventionell und auffällig. 

Die Nazis waren mit seinen Werken überfordert: Auch wenn es nicht als „entartet“ gebrandmarkt wurde, so wurde seine Arbeit doch als „bolschewistische Afterkunst, die besser nach Marokko oder Palästina passen würde“ (so zitiert in Voigt/Flagge (Hrsg.): Dominikus Böhm 1880–1955) bezeichnet. Sein Büro blieb bis Kriegsende weitgehend ohne große Aufträge und auch aus dem Lehrbetrieb wurde er gedrängt. Die Böhms und ihr Stil waren verfemt.

Gottfried Böhm:
Brutalist und Hochschulprofessor

Dominikus‘ Sohn Gottfried begann nach seiner Rückkehr aus dem Krieg im Jahr 1942 ein Bildhauereistudium, das seiner Meinung nach am ehesten seinem Talent und seiner Neigung entsprach. Bald studierte er jedoch parallel Architektur und führte nach seinem Abschluss im Sommer 1945 das väterliche Büro in Köln fort. Böhm junior übernahm bei seiner Arbeit die Experimentierfreude seines Vaters, mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1955 zusammenarbeitete.

In den folgenden Jahrzehnten bauten Böhm und sein Team 60 Kirchen, ebenso viele Profanbauten und diverse Wohnsiedlungen. Böhm war außerdem für 24 Jahre Hochschulprofessor an der RWTH Aachen. Zu Unrecht gilt er heute vor allem als Vater des deutschen Brutalismus, also des Baus ausschließlich mit Beton, der auch nach außen sichtbar ist.

Kein anderer Architekt löste in der jungen Bundesrepublik mit seinen Entwürfen derart viele Kontroversen aus – seine Bauten wurden als „Affenfelsen“, „Backenzahn“ oder einfach nur als „Betonklotz“ bezeichnet.
Als er in den 60ern den Mariendom in Neviges vorstellte, löste er damit eine Welle der Entrüstung aus. Das komplett in Sichtbeton gehaltene, nach außen schroffe Bauwerk ist heute eine Ikone moderner Baukunst und gilt als Böhms wichtigstes Werk. Der Titel „Gott des Betons“ tut seiner Vielfalt allerdings Unrecht, da dieser Stil nur eine relativ kurze Phase seines Schaffens ausmacht.

Gottfried Böhms Erbe

Warum aber ist Gottfried Böhm auch im Jahr 2021 noch relevant?

Böhm wird nicht selten als Universalgenie bezeichnet. Begründet liegt dies zum einen in seinem außergewöhnlichen Talent als bildhauender Architekt, das ihn zu einem deutschen Ausnahmekünstler machte. Hier war sicher seine Begabung im Umgang mit Beton, Stahl, Glas und Stein hilfreich. Er strahlt darüber hinaus aber vor allem eine Geisteskraft aus, die ihresgleichen sucht: Sein Werk verkörpert eine kaum begreifbare Widersprüchlichkeit aus Tradition und Moderne, aus Erneuerung und Bewahrung. Er entsprach mit seiner offenen und  transparenten Architektur in der Post-Nazizeit dem Aufbruchsgeist der frühen Bundesrepublik, die, wie Willy Brandt es einige Jahre später postulierte, „mehr Demokratie wagen“ wollte und den gesellschaftlichen Diskurs suchte. Er war aber weder ein 68er im Geiste noch ein architektonischer Bilderstürmer. 

Gottfried Böhm hat also weit mehr hinterlassen als nur große Kunst: Der Geist seiner Bauten weist einen Weg in die Zukunft. Geht man heute durch Köln oder durch viele andere deutsche Großstädte, so denkt man manchmal, man ginge durch ein muffiges 50er- oder 80er-Jahre-Freilichtmuseum, so altmodisch sehen unsere Städte mittlerweile aus. Mehr Risiko, mehr Wagemut, mehr Kreativität – vergleichbar der, die Böhm in den 50ern und 60ern bewies  würde der deutschen Städteplanung, dem Städtebau und damit unserer Gesellschaft sicher ganz gut zu Gesicht stehen. 

Gottfried Böhms Werke könnten aus einer anderen Perspektive vielleicht als tragisch bezeichnet werden: Er revolutionierte den christlichen Kirchenbau zu einem Zeitpunkt, zu dem die Amtskirche nach 2000 Jahren einen geradezu beispiellosen Popularitäts­verlust erlitt, der wohl kaum noch zu stoppen sein wird. Drei seiner Kirchen sind schon jetzt entwidmet und werden als Versammlungsraum oder Galerie mittlerweile zu kirchen­fremden Zwecken verwendet. Kamen seine Ideen also für einen modernen Kirchenbau einfach zu spät? Eilte er einem Erneuerungs­defizit der Kirche voraus, das diese einfach nie mehr wird ausgleichen können?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ehrenfelder Zentralmoschee auch in 200 Jahren noch an ihrer jetzigen Stelle stehen wird. Und wer weiß: Vielleicht werden eines Tages in vorwiegend islamisch geprägten Ländern ein oder zwei Moscheen stehen, die vor vielen Jahrzehnten vom Geist und vom Stil eines westlichen Kirchenbaumeisters beeinflusst worden sind? Gottfried Böhms inspirierender Kraft ist ein derart weitreichender Einfluss zuzutrauen.

Die Zeit wird es zeigen.

Eine kleine Voraussage

Die gläserne Reichstagskuppel in Berlin wird eines Tages auch Böhm zugeschrieben werden.

Warum? Böhm durfte 1988, noch vor dem Mauerfall, auf Wunsch von Helmut Kohl Entwürfe für einen Umbau des Gebäudes einreichen, die erstmalig die unkonventionelle Kuppel enthielten. Als dann nach dem Mauerfall der englische Architekt Norman Foster vom wiedervereinigten Bundestag den Auftrag für den Umbau des Reichstages bekam, hat der dieses „Detail“ seines Kollegen einfach in seine Entwürfe übernommen. Eine kleine Frechheit, die vor der Geschichte sicher nicht ewig Bestand haben wird.

Foto –––– © Metodi Popow
Foto –––– © wikimedia.org / Seier+Seier
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Foto –––– © wikimedia.org / Raimond Spekking 

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