Lieblingslistenlust

Die Faszination von Listen und Lieblingslisten

„Soll ich dir von Manfred geben!“

Der grinsende Kleene feuert mir ein zerknülltes Papier in den Schoß und rennt sofort zurück zu den großen Jungs. Zu seinem Bruder Manfred, zu Patrick, Karsten und Ulf, die ihre Decke auf der Freibadwiese mit ein paar Metern Sicherheitsabstand zu unserer platziert haben und gerade eine Tüte Chips kreisen lassen. Und natürlich werde ich von meinen kichernden und feixenden Klassenkameradinnen genötigt, das Wurfgeschoss augenblicklich zu entknüllen.

„Komm bitte, Judith!!!“

Ich weiß es wie gestern. Zum Vorschein kam ein in ungelenker Jungs-Handschrift verfasster und mit Fettflecken versehener Fragebogen auf papiernem Krakelee. Es war eine Abwandlung der „Lieblings“-Fragebögen, wie sie bis dahin eigentlich ausschließlich zwischen uns Mädels hin- und hergetauscht worden waren. Und die etwa so aussehen konnten:

Lieblingsfarbe?
Lieblingsessen?
Lieblingslied?
Lieblingslehrerin?
Lieblingsfach?
Lieblingsfarbe?
Lieblingseis?
Lieblingsgruppe? (gemeint war „Band“)
und – stets mit dabei – der
Lieblingsstar?

Mit immer neuen Ideen, was alles Lieblingskategorien sein konnten, steckten wir Schülerinnen vom Mädchengymnasium uns gegenseitig solche Fragebögen zu. Und abgesehen davon, dass deren Aushändigung und Beantwortung immer auch Freundschaftsanfrage und -bestätigung war, generierte dieses Tun stets neue Lieblingslisten, die uns wieder und wieder mit einem satten kleinen Glück erfüllten. Noch heute besitze ich eine Kladde mit ebensolchen, die ich kontinuierlich fortführe. Wobei Erwachsene das Präfix „Lieblings-“ ja eher mit Bezug zu Örtlichkeiten im Munde führen, wie etwa den „Lieblingschinesen“, die „Lieblingsbar“, das „Lieblingscafé“ oder den „Lieblingsplatz“. In Köln gibt es sogar die „Lieblingszahnärzte“.

Buchmarkt und Verlage ...

… haben in den letzten Jahrzehnten das Prinzip „Liste“ und „Lieblingsliste“ für sich entdeckt. So gibt es heute beispielsweise abgewandelte Poesie-Alben schon für die Kleinsten im Kindergarten- und Vorschulalter, sogenannte „Freundebücher“, in die sich vor allem Schreibanfängerinnen auf pastellfarbenblassem Einhornpapier nebst Foto mit Antworten zu Lieblingsfragen verewigen. Wobei die Lieblingsfarbe auch durch einfaches Ausmalen eines Kreises in der nämlichen angezeigt werden kann.

Aber auch für Erwachsene wird – neben Bucket-, Besten- und (Not)-To-do-Listen – eine Flut von Listen zum Selberausfüllen in Buchform herausgebracht. Allem voran vom Riva-Verlag, der mit Titeln aufwartet wie „Mein Glück in 1000 Listen“ oder „Mein Leben …“, „Wir Beide …“ oder „Was ich mir wünsche …“ in jeweils 1000 Listen. Wer hingegen keinen eigenen Gehirnschmalz produzieren möchte, für den gibt es ähnliche Titel mit gar lustigen Ankreuzlisten.

Aber was hat es mit der Faszination für Listen und Lieblingslisten eigentlich auf sich? Welchen Reiz üben sie auf uns aus? Was sagt die Wissenschaft?

Kognitionswissenschaftler, Psychologen und Soziologen wie Daniel J. Levitin, Barry Schartz, die Brüder Chip und Dan Heath oder die amerikanische Schriftstellerin, Psychologin und Journalistin Maria Konnikova betonen einheitlich die Bedeutung von (Lieblings-)Listen als kognitive Werkzeuge zur Bewältigung von Komplexität und zur Verbesserung der Entscheidungsfindung. Sie böten nicht nur eine Form der Selbstreflexion, sondern auch eine Möglichkeit, mit der Informationsflut und den vielen Wahlmöglichkeiten in der modernen Welt besser umzugehen. Listen und Lieblingslisten würden uns helfen, sowohl unsere inneren Prioritäten zu klären als auch äußere Komplexität zu reduzieren, indem sie eine einfache, geordnete Struktur schüfen, die unser Gehirn leichter verarbeiten könne, da sie Informationen in kleine geordnete Teile zerlegten.

Ganz ähnlich dazu bestätigt nachträglich auch mein eigenes Empfinden, dass unsere kindlichen Lieblingslisten eine erste, simple Form von Identitätssuche und eine Art inneres Aufräumen gewesen sein könnten.

Übrigens fällt mir da noch ein, dass mich heutzutage das Abgleichen von Vorlieben auf Dating-Portalen manchmal in die Zeit unserer damaligen Listenliebe zurückversetzt …

Auf Manfreds zerknittertem Zettel befanden sich seinerzeit jedenfalls circa sieben „Lieblings“-Fragen mit verrutschten Doppelpunkten. Ganz offensichtlich schienen die Jungs unser Lieblings-Hobby spitzgekriegt zu haben und wussten es sich – selbst wenn es ihnen untereinander viel zu uncool gewesen wäre – im Hinblick auf uns Mädchen nutzbar zu machen. Und so kam Manfred dann auch mit seiner letzten Frage auf den Punkt:

Lieblingsmensch? _ _ _ _ _ _ _

Zeichnung von einem Mann, der intensiv an einem Text schreibt

Klar war, dass es sich dabei nicht um die Frage nach dem von Namika besungenen besten Kumpel handelte, sondern ziemlich unmissverständlich um die Frage: „Willst du mit mir gehen???“ Schließlich war ja auch die Buchstabenanzahl für die Antwort vorgegeben. Peinlich!!! Wenigstens waren die Freundinnen unter mauligem Protest ins Wasser gegangen, weil ich mich nicht hatte erweichen lassen, den Fragebogen in ihrem Beisein auszufüllen. Bis auf meine kleine Schwester, die ich – unter Zugzwang, wie ich zu sein glaubte – nun meinerseits mit einer Antwort zu den Jungs herüberschickte. Nicht ohne in Windeseile meine Badekappe überzustreifen und in Richtung Schwimmbecken zu entschwinden …

Das Letzte, was ich in meinem Rücken hörte, war ein Jubelschrei – von Patrick.

Foto –––– © Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay
Foto –––– © Colleen ODell auf Pixabay

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