Der innere Kritiker

VOM WIDERSACHER ZUM VERBÜNDETEN

Ein kleines Wesen hockt in meinem Kopf,
Ich wünschte, es hätte einen Ausschaltknopf,
Denn es redet Tag und Nacht auf mich ein,
Es schimpft mit mir und macht mich klein.
Es sagt “Du bist zu dumm, du kannst das nicht”
Und plötzlich verändert sich meine Sicht.
Plötzlich seh’ ich nur noch meine Unzulänglichkeit,
Werde immer leiser, wenn das Wesen lauter schreit:
“Du bist nicht gut genug, du bist ein Mängelexemplar”
Und in meinem Herzen werden seine Worte wahr.
Dabei sind sie nichts weiter als ein Imitat,
Ein Echo der Kindheit, ein alter, ausgetrampelter Pfad,
Ein Filter, der das Heute mit Damals und Früher färbt,
Es sind nicht meine Worte, ich hab’ sie nur geerbt.
Es ist nicht meine Wahrheit, nicht das, was ich bin.
Ich lerne meine Stärken kennen und wage einen Neubeginn.

Vom lästigen Widersacher zum wertvollen Verbündeten

Der innere Kritiker ist wie ein Wesen, das nörgelnd in unserem Kopf sitzt und nie mit uns zufrieden ist. Er ist die innere Stimme, die streng und herablassend auf uns einredet und uns auf unsere Unsicherheiten aufmerksam macht. „Ich bin nicht gut genug”, „Die anderen sind viel klüger als ich”, „Ich bin nicht schön genug”, „Die anderen mögen mich sowieso nicht” oder „Erst wenn ich viel leiste, bin ich wertvoll” sind typische negative Gedanken oder Glaubenssätze, die oft tief verankert sind. Im Grunde ist der innere Kritiker die Summe unserer Ängste und Befürchtungen und diese haben in der Regel wenig mit der gegenwärtigen Realität zu tun – dafür umso mehr mit unserer Vergangenheit.

Er ist die verinnerlichte Kritik, die Verbote und die Wertvorstellungen, die uns in unserer Kindheit vor allem durch unsere Bezugspersonen mitgegeben wurden. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, dass auf gute schulische Leistungen Lob und auf schlechte Leistungen Kritik oder sogar Bestrafungen folgen, kann bei dem Kind unbewusst die Idee entstehen, dass es etwas leisten muss, um anerkannt oder geschätzt zu werden. Ein innerer Kritiker entsteht, der später im Erwachsenenalter, auch ein starker Antreiber sein und für die Verwirklichung unserer Ziele hilfreich sein kann. Allerdings wird er zum Problem, wenn er zu laut wird, wir kein (Eigen-)Lob mehr zulassen können und Selbstvorwürfe überhandnehmen. Oft ist der erste Impuls, diesen inneren Widersacher loszuwerden, ihn zu bekämpfen oder zu unterdrücken. Aber was wäre, wenn wir es schaffen könnten, unseren inneren Kritiker in einen wertvollen Verbündeten umzuwandeln? Wie könnte er auf eine konstruktive Weise genutzt werden?

Ein achtsamer Umgang mit unserem Innenleben ist der erste Schritt

Um den Umgang mit dem inneren Kritiker zu verbessern, ist es sinnvoll, ihn zunächst einmal kennenzulernen und sich seiner Anwesenheit überhaupt bewusst zu werden. Erst, wenn wir wahrnehmen, dass wir zu streng mit uns sind, können wir den Selbstabwertungen auch bewusst etwas entgegensetzen und uns mit mehr Selbstfürsorge begegnen. Achtsamkeit bedeutet, in uns hineinzuhorchen und zu beobachten, was in uns vorgeht – ohne zu bewerten und ohne daran festzuhalten. Es geht also nicht darum, sich für die negativen Gedanken zu verurteilen oder sich darüber zu ärgern, sondern nur wahrzunehmen, dass sie da sind und sie anschließend auch wieder vorüberziehen zu lassen. Die neutrale Beobachter-Rolle schafft dadurch einen gewissen Abstand. Auch ein Name kann für mehr Distanz sorgen: Wenn wir dem Kritiker einen Namen und eine eigene Identität geben, fällt es leichter, sich nicht mit seinen Botschaften zu identifizieren.

Häufig lässt sich der innere Kritiker an bestimmten Worten oder Formulierungen erkennen, wie zum Beispiel „Ich muss” oder „Ich sollte”. Auch unsere Gefühle sind ein guter Anhaltspunkt. Wenn wir in uns hineinhorchen und feststellen, dass wir uns angespannt, ängstlich, hilflos oder überfordert fühlen, könnte es sein, dass der innere Kritiker unbewusst im Hintergrund agiert und für unsere Stimmung verantwortlich ist. Am Anfang kann es noch ungewohnt sein und viel Übung erfordern, sich selbst zu beobachten, aber Achtsamkeit lässt sich trainieren und wird mit der Zeit leichter.

Die positiven Absichten erkennen

Damals erfüllte der innere Kritiker oft eine sehr sinnvolle Aufgabe, denn als eine Art innerer Kompass bewahrte er uns vor Strafe und Ablehnung. Heute steht er uns mit seinen negativen Gedankenschleifen eher im Weg, schürt Zweifel, führt zu Scham und Minderwertigkeitsgefühlen oder geht sogar mit psychischen Problemen einher, wie zum Beispiel einer Depression oder einer Angststörung. Statt ihn zu bekämpfen oder zu verdrängen, können wir versuchen, ihn als Beschützer oder Motivationscoach wahrzunehmen, der leider über das Ziel hinausschießt. Eigentlich möchte er dafür sorgen, dass wir sicher sind, indem er uns vor Misserfolg oder anderen negativen Erfahrungen bewahrt – nur geht er dabei leider nicht besonders konstruktiv und oft sehr widersprüchlich vor. Der innere Kritiker hat sich seit seiner Entstehung in unserer Kindheit nicht mehr weiterentwickelt. Er hat leider nicht gemerkt, dass wir längst erwachsen sind und heute über viele Ressourcen und Kompetenzen verfügen, um mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Er sieht uns immer noch als kleines Kind, das er beschützen und antreiben muss – ein wirklich anstrengender Job. Wie können wir unseren Kritiker also entlasten?

Sich auf die eigenen Stärken fokussieren

Die Motivation des inneren Kritikers ist häufig das Gefühl der Angst, zum Beispiel Angst vor Enttäuschung, Zurückweisung oder Misserfolg. Indem wir uns mehr auf unsere Stärken und Fähigkeiten konzentrieren, signalisieren wir ihm, dass er uns vertrauen kann, da wir nun erwachsen sind und die Angst oft unbegründet ist. Es droht keine Gefahr und er darf sich auch mal zurücklehnen. Eine Möglichkeit, sich wieder der eigenen Fähigkeiten bewusst zu werden, ist das Schreiben einer Stärkenliste: Was kann ich gut? Worin bin ich stark? Worauf kann ich vertrauen? Eine weitere Möglichkeit ist das Aufzählen der gemeisterten Herausforderungen im Leben: Was habe ich bereits geschafft? Worauf bin ich stolz?

Wann immer der innere Kritiker wieder anfängt zu nörgeln, können wir uns die Listen durchlesen und seine Angst mit Fakten widerlegen – vielleicht sogar in Form eines Gesprächs: „Hallo [Name], da bist du ja wieder. Du versuchst mir mal wieder einzureden, dass ich nicht gut genug sei, obwohl doch alle Fakten dagegensprechen. Schau mal, was ich schon alles geschafft habe…” Es kann auch hilfreich sein, zu jedem negativen Gedanken des inneren Kritikers einen positiven Gegen-Gedanken zu formulieren, der uns ermutigt, zum Beispiel: „Das schaffst du sowieso nicht” – „Ich kann es versuchen und wenn es nicht klappt, ist das nicht schlimm. Dann versuche ich es eben nochmal oder anders. Und nur, weil etwas einmal nicht klappt, bedeutet es nicht, dass ich weniger wertvoll bin.”

Selbstfürsorge statt Selbstabwertung

Oft spricht der innere Kritiker sehr streng mit uns – das Gegenteil dazu ist Selbstfürsorge. Selbstfürsorge bedeutet im Grunde, sich selbst mit Mitgefühl und Nachsicht zu begegnen, Grenzen zu setzen und gesunde Gewohnheiten zu pflegen, die unser Wohlbefinden verbessern. Wenn wir uns im Großen und Ganzen wohl in unserer Haut fühlen, sind wir weniger anfällig für die Attacken des inneren Kritikers.

Niemand ist perfekt und Fehler und Rückschläge sind im Leben unvermeidbar. Um Selbstmitgefühl und Nachsicht zu üben, hilft es vielen Menschen, sich selbst wie einen guten Freund oder eine gute Freundin zu behandeln. Wie würden wir mit einem Menschen umgehen, den wir gernhaben? Höchstwahrscheinlich würden wir ihn trösten und ermutigen. Wir würden nachsichtig mit ihm sein und ihm etwas Gutes tun wollen.

Ein sehr wichtiger Aspekt der Selbstfürsorge ist die Wahrnehmung und Erfüllung unserer Bedürfnisse auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. Dazu können wir uns folgende Fragen stellen: Achte ich auf ausreichend Schlaf und Entspannung? Achte ich auf eine ausgewogene Ernährung? Bewege ich mich regelmäßig? Gehe ich freundlich und nachsichtig mit mir um? Kann ich meine Gefühle wahrnehmen und ausdrücken, zum Beispiel durch Kreativität oder den Austausch mit Freundinnen und Freunden? Wie steht es um meine Selbstachtung? Schaffe ich es, Grenzen zu kommunizieren? Nehme ich mir genug Zeit für soziale Kontakte, Hobbys und Interessen? Auch Lernen und Wachstum sind ein Bedürfnis: Lasse ich mich inspirieren, zum Beispiel durch interessante Bücher oder Dokumentationen? Lerne ich neue Fähigkeiten?

Positive Erfahrungen sammeln

Statt den negativen Gedanken und Erfahrungen sehr viel Energie zu widmen – denn das erwartet der innere Kritiker von uns – können wir aktiv daran arbeiten, einen positiven Ausgleich zu schaffen. Je mehr Alltagsfrust wir erleben, desto wichtiger sind positive Erfahrungen, wie beispielsweise ein Spaziergang, ein gutes Buch, ein Besuch in einem Café, ein Telefonat mit lieben Menschen oder ein leckeres Essen. In einem “Positiv-Tagebuch” oder einem Dankbarkeitstagebuch können diese kleinen Lichtblicke jeden Tag festgehalten werden und wir machen uns so die positiven Seiten des Lebens wieder bewusst.

Einen neuen Weg einschlagen

Mit Übung und Geduld können wir unser negatives Selbstgespräch in positivere Gedanken umwandeln. Wir können den inneren Kritiker mit ins Boot holen, indem wir seine Aussagen anhand von Fakten überprüfen und entscheiden, ob sie gerechtfertigt sind oder nicht. Er wird uns natürlich unser Leben lang begleiten, aber, wenn wir lernen, uns nicht mehr mit ihm und seinem Pessimismus zu identifizieren, sind wir auf dem richtigen Weg. Diesen neuen Weg müssen wir auch nicht ganz allein beschreiten. Der Austausch mit anderen, beispielsweise mit vertrauten Menschen oder in Form einer Psychotherapie, kann helfen, eine objektive Perspektive zu gewinnen und kann eine große Entlastung sein.

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