Die Sanduhr

von H. FZ.

Zeit an sich ist unsichtbar. Die Folgen der Zeit, oder anders, die Konsequenzen der Zeit, machen sie sichtbar. Man kann der Zeit beim „Sein“ zuschauen. Ich schreibe bewusst „Sein“, denn „fortschreiten“, „verrinnen“ oder „ablaufen“ sind alle so konnotiert, dass ein Verlust der Zeit unterstrichen ist. Und das wiederum erinnert uns zuverlässig daran, dass alles vergänglich ist, nicht zuletzt wir selbst. Es soll in diesem Text aber nicht unbedingt um Vergänglichkeit gehen, sondern um einen Gegenstand, der die Zeit, meiner Meinung nach, auf eine besondere Art anfassbar macht und das eigene Bewusstsein für Zeit verstärkt.
Die Sanduhr.

Die Sanduhr, auch Stundenglas genannt, gibt es schon seit Anfang des 14. Jahrhunderts. Weil sich die Sanduhren im Laufe ihrer Benutzung auch abnutzten und dadurch ungenau wurden, wurden sie im Laufe der Jahrhunderte modifiziert, sodass heutzutage überhaupt kein Sand mehr drin ist, sondern winzige Glasperlen.

Ich habe eine Sanduhr mit blauem Sand geschenkt bekommen. Sie zeigt ziemlich genau eine halbe Stunde an. Rund 30 Minuten rinnt dieser blaue Sand von oben nach unten in einem Glasgefäß, das auch ein dreidimensionales Abbild der Zahl 8 sein könnte. Dass die 8, wenn sie auf der Seite liegt, ein Zeichen für das Konzept der Unendlichkeit sein kann und damit unter dem Begriff „Ewigkeit“ auch im Bereich der Zeit einen Platz hat, sei an dieser Stelle nur eine Randbemerkung.

Manchmal fragt man sich: „Wo ist denn die Zeit hin verschwunden?“ Die Antwort ist ganz einfach: Sie ist weitergelaufen, vorbeigezogen, verflogen. Schaut man auf eine Armbanduhr oder ein Smartphone Display, dann sieht man, wie sich die Zeiger bewegen oder sich die Zahlen der Uhr auf dem Display verändert haben. Das scheint für viele Menschen heutzutage kaum Bedeutung zu haben, denn sie schauen auf die Uhr und vergessen sofort wieder, was dort stand.

Bei der Sanduhr ist das anders. Egal ob man bewusst auf die Uhr am Handgelenk oder aufs Display schaute, als man die Sanduhr umgedreht und dabei die halbe Stunde Zeitspanne gestartet hat, wenn der Sand einmal von oben nach unten geronnen ist, dann weiß man: Eine halbe Stunde ist vergangen, der Zug, den man bekommen wollte, ist weg, die Nudeln zerkochter Matsch, der Tee bitter und nur noch mit viel Milch und Zucker zu retten.

Und auch wenn man wieder vergisst, wie viel Uhr es war, als man die Sanduhr umgedreht hat, es sind seitdem, unmissverständlich, 30 Minuten Zeit vergangen. Das bleibt im Kopf, weil man es sieht. 

Zusätzlich erinnert man sich wahrscheinlich eher daran, wie oft man die Sanduhr umgedreht hat, als daran, wie oft man auf die Armbanduhr geschaut hat. Denn eine Sanduhr muss man nach dreißig Minuten anfassen und händisch umdrehen, um sie weiter benutzen zu können. Das durchbricht das routinierte aufs Handgelenk und aufs Display schauen und wieder vergessen. Hier kommen Sehen und Anfassen zusammen und werden zum Begreifen. 

Und da ist sie, die Anfaßbarkeit der Zeit, Material geworden durch Glas und Sand, haptisch erlebbar geworden durch das in die Hand nehmen und herumdrehen und eben dadurch im Bewusstsein um die Ereignisse des Tages verankert.

Auf diese Art machen das weder die Armbanduhr noch das Display vom Smartphone. Das macht die Sanduhr, meiner Meinung nach, besonders, denn sie verlangt Aufmerksamkeit.

Wenn man Zeit hat, was ja eigentlich immer der Fall ist, denn Zeit haben und nicht haben, finden gleichzeitig statt, dann kann man sich auch mal dreißig Minuten Zeit nehmen und dem Sand aufmerksam beim Rieseln zuschauen.

Das Schreiben dieses Textes, von Anfang bis Ende, hat übrigens ungefähr 7 Umdrehungen der Sanduhr gebraucht. Warum „ungefähr“? Weil ich nicht ganz aufmerksam war. 😉

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