Ein kritischer Kommentar zu einem schwierigen Thema
- Autor:innen: Jo O.
- Layout: Ehemalige TN
- Veröffentlicht: 21. Juni 2023
- Kategorie: Gesellschaft
Im Hier und Jetzt zu sein, sowohl körperlich, als auch mental, ist für viele nur reine Theorie. Wir stecken oft irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Hoffnung und Ängsten. Ist der Achtsamkeitshype wirklich eine Selbstoptimierung oder nur Gewinnmaximierung?
Achtsamkeit: Spätestens seit Mitte der Zehnerjahre ist der Begriff auch in Deutschland in aller Munde. Unternehmen stellen Achtsamkeitstrainer:innen ein, Business-Tai-Chi wird angeboten und vieles mehr. Doch Maßnahmen zur Stärkung der seelischen Gesundheit von Arbeitnehmer:innen werden oft erst dann ergriffen, wenn Betriebe durch häufige Arbeitsausfälle starke Einbußen erleiden oder wenn sich Medienberichte über Todesfälle durch Stress und Druck am Arbeitsplatz häufen.
Seelische Gesundheit geht jede:n etwas an
Oder, um es mit Lena Kuhlmanns Worten zu sagen: „Psyche? Hat doch jeder“. Ihr erfolgreiches Sachbuch mit diesem Titel ist symptomatisch für ein grundlegendes Dilemma unserer Zeit. Schon der Titel spielt darauf an, dass „Psyche“ ein negativ konnotierter Begriff ist, den viele mit Geistesgestörtheit, Psychiatrie, aber auch mit kriminellen Neigungen in Verbindung bringen. Dass das Buch der bloggenden Psychotherapeutin ein Spiegel-Bestseller geworden ist und neben vielen ähnlichen Ratgebern in den Buchhandlungen steht, spiegelt aber das wachsende Interesse der Deutschen an den Themen Therapie und seelische Gesundheit.

Die Statistik schlägt Alarm
Zufall ist das nicht. Der Gesundheitsreport 2019 der Techniker Krankenkasse gibt für 2018 an, die meisten krankheitsbedingten Fehltage seien erstmals auf Erkrankungen mit Diagnosen psychischer Störungen entfallen. Laut Erhebungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zu den volkswirtschaftlichen Produktionsausfallkosten aufgrund von Arbeitsunfähigkeit in Deutschland waren psychische Krankheiten in besagtem Jahr der zweithäufigste Grund für Arbeitsausfälle, unabhängig vom Geschlecht.
Angeführt wird die Liste zwar von „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“, also Rücken-, Nacken-, Muskelschmerzen und Ähnliches. Doch bei diesen, sowie bei nahezu allen anderen wichtigen „Ausfall-Diagnosen“ sind seelische Ursachen zumindest nicht unwahrscheinlich. Hierzu zählen auch Kreislauferkrankungen oder Verdauungsprobleme, die oft auch Alarmsignale des Körpers oder Symptome einer psychischen Erkrankung sein können.
Typisch westliches denken
Dazu muss gesagt werden: Eine strikte Einteilung von Beschwerden in „organisch“ und „seelisch“ ist typisch westliches Denken. Unsere Schulmedizin öffnet sich nur sehr langsam dem Gedanken, den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist wahrzunehmen und zu heilen. Anders sieht es zum Beispiel in Ländern wie China aus. Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) kennt keine Trennung von Emotion, Geist und Körper. Ganzheitlichkeit ist in China kein Modebegriff, sondern ein tief verankertes, gelebtes Konzept.
Das Nachbarland Japan gerät indes immer wieder in die globalen Schlagzeilen. Regelmäßig wird die dort herrschende strikte Arbeitsmoral und deren verheerende Konsequenzen thematisiert. Überstunden, Stress, Druck und ein allgemein hohes Arbeitspensum haben körperliche und seelische Überlastung zur Folge, denen viele nicht mehr standhalten können. In Japan gibt es ein eigenes Wort für „Tod durch Überarbeiten“ :
Karoshi
- In Japan gibt es zwei anerkannte Arten von Karoshi: Tod durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bedingt durch Überarbeitung und Selbstmord infolge psychischer Überbelastung.
- Den ersten „Karoshi-Fall“ gab es bereits vor über 50 Jahren: ein 29-jähriger Arbeiter stirbt durch einen Schlaganfall an seinem Arbeitsplatz bei der größten japanischen Tageszeitung.
- Ende der 80er-Jahre starben mehrere Manager:innen mittleren Alters ohne vorherige Anzeichen einer Erkrankung; die Zahl der Toden, bei denen Überarbeitung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todesursache war, stieg deutlich an.
- 1987 fing das japanische Arbeitsministerium an, Statistiken über Karoshi-Fälle anzulegen.
- Seit der juristischen Anerkennung als haftungspflichtige Todesart werden japanische Arbeitgeber:innen auf Entschädigungszahlungen von den Angehörigen der Karōshi-Opfer verklagt
Doch so lange diese Arbeitskultur schon in der Kritik steht, so lange ließen wirksame Präventivmaßnahmen in Form von gesetzlichen Neuregelungen auf sich warten. Erst im Jahr 2016 erstellte und publizierte die japanische Regierung ein Weißbuch mit Daten zu Überstunden und Suizidfällen, die auf Überarbeitung zurückzuführen sind. Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, standen zuvor doch nur wenige medienwirksame Karoshi-Fälle im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der „Karoshi-Tod“ der 31-jährigen Journalistin Miwa Sado im Jahr 2017 stieß in Japan erneut eine Debatte um Arbeitsbedingungen an. 2019 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das die Arbeitszeit beschränken sollte. Für viele an Burnout leidende Menschen in Japan kommen diese staatlichen Maßnahmen jedoch zu spät. Zudem bleibt fraglich, ob dieses Gesetz allein für die japanischen Arbeitnehmer:innen tatsächlich einen großen Unterschied macht.
Das japanische Karoshi-Netzwerk schätzt die Zahl derer, die arbeitsbedingt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben, jährlich auf
Menschen.
Erst bei massenhaften Ausfällen wird gehandelt
Interessant ist die Frage, weshalb man in Europa wie in Ostasien sehr spät auf die Tatsache reagiert, dass die Zahlen der Menschen mit Depression und Burnout steigen. Doch es lässt sich ein Muster beobachten: Es wird erst dann die Initiative ergriffen, wenn es zu massenhaften Arbeitsausfällen kommt, Unternehmen starke Einbußen verzeichnen. Die Gesundheit des Individuums wird in den Blick genommen, sobald es nicht mehr profitabel ist, seine Arbeitsressourcen nicht mehr zur Verfügung stellen kann. Dann, aber auch erst dann, gilt das geflügelte Wort „Gesundheit geht vor“.

Selbstfürsorge mit bitterem Beigeschmack
„The Mindful Revolution“ titelte die amerikanische TIME im Februar 2014. Mehr Gelassenheit und seelisches Wohlbefinden als revolutionärer Gedanke? Dieser Gedanke macht zumindest stutzig, wenn nicht sogar misstrauisch. Im TIME-Leitartikel erzählt Autorin Kate Pickert unter anderem von ihren Erfahrungen mit einem MBSR-Seminar. Das Kürzel steht für „Mindfulness-Based Stress Reduction“, zu Deutsch „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“. Von Jon Krabat-Zinn bereits in den 1970ern für den Einsatz in Psychotherapie und in Kliniken entwickelt, entdecken immer mehr Menschen diese Methode für sich. Aber auch Betriebe sind auf die nachhaltig positiven Effekte von Meditationstechniken, Qigong, Yoga und MBSR aufmerksam geworden und bieten ihren Mitarbeitenden entsprechende Seminare und Workshops an. Manche Trainer:innen der chinesischen inneren Kampfkünste beziehungsweise der Meditationsformen bieten unter dem Namen „Business-Qi-Gong“ und „Business-Tai-Chi“ Kurse an, in denen dauergestresste Angestellte seelisch und körperlich wieder ins Lot kommen sollen.
Die Kurstitel haben einen bitteren Beigeschmack, verraten sie doch, worum es hier eigentlich geht: Nicht das Wohlbefinden des Individuums steht im Fokus. Letzten Endes geht es um seine Profitabilität für das Unternehmen, für das es arbeitet. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Unternehmen mit diesen Kursen, die sie als Präventionsmodelle in den Arbeitsalltag integrieren, in erster Linie auf die Steigerung von Produktivität und Leistungsfähigkeit abzielen. Bereits in den frühen 2010er-Jahren nannten die Medien „Achtsamkeit“ im selben Atemzug mit „Mode“ und verwiesen darauf, dass immer mehr Unternehmen im Gefolge von Google auf den Achtsamkeitszug aufspringen.
Initiativen gegen Stress
2008 lancierte die DAK mit „Gesundes Miteinander“ eine aufwändige Kampagne für Präventivmaßnahmen im Alltag, die seelische Gesundheit stärken und erhalten sollen. Die Initiative gegen Stress, Mobbing und Intoleranz warb mit grellbunt designten Postern und fresh klingenden Sprüchen, die eindeutig ein jüngeres Publikum ansprechen sollten. Mit harmlos provokanten Sprüchen wie „Ihr könnt euch mal (freundlich) grüßen“ soll vermittelt werden, dass Freundlichkeit cool ist und einen auch selber glücklich macht. Gleichzeitig wird Ernstes wie Mobbing, Diskriminierung oder Alterseinsamkeit thematisiert. „Gesund sein ist gut, aber gut sein, ist noch viel gesünder“, so der Leitgedanke der DAK-Kampagne.
Wer aber die „steigende Zahl psychisch gefährdeter Mitarbeiter[:innen]“ erkennt und für mehr Achtsamkeit plädiert, wie es auch die Herausgeber:innen und Autor:innen des Buches „Achtsamkeit in Arbeitswelten“ (2019) tun, will die Symptome behandeln, nicht die Ursachen. Schon der erste Satz des Vorworts ist entlarvend: „In den letzten Jahren ist eine Zunahme an AU-Tagen und Erwerbsminderungsrenten durch psychische und Verhaltensstörungen zu beobachten.“ In diesem Duktus geht es weiter: „Immer mehr Firmen setzen auf Achtsamkeit zur Steigerung der Leistungsfähigkeit ihrer Arbeitskräfte, zur Verhinderung von Absentismus und Präsentismus.“ Will man zynisch sein, könnte man den Herausgeber:innen unterstellen, dass es ihrem Buch nur ein Gedanke zugrunde liegt: Wo die Rendite bedroht ist, interessiert uns die Gesundheit unserer Mitarbeitenden.
„Wertschätzende Führungskultur“ in allen Ehren – aber wenn von Achtsamkeit in der Arbeitswelt gesprochen wird, dreht sich der Diskurs überwiegend um hierarchieorientierte Arbeitsmodelle. Diese stellen aber zum einen keine erstrebenswerte Norm dar. Zum anderen brauchen auch nicht in Betrieben arbeitende Menschen wie Sportler:innen, Künstler:innen oder Landwirt:innen mehr Gelassenheit. Und ja, sogar Manager:innen brauchen sie. Denn eine Psyche hat schließlich jede:r.
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