Symphony of Extremes

Musik aus dem Blut eines Landes

Zur Feier der 100-jährigen finnischen Unabhängigkeit im Jahr 2017 ließen sich die Finn:innen etwas ganz Besonderes einfallen. Wissenschaft und Musik schlossen sich zusammen, um ein einzigartiges Kunstwerk zu erschaffen: einen akustischen Einblick in die Seele Finnlands.

Finnland ist von extremen Gegen­sätzen geprägt. Das skandi­navische Land wird auch „Land der tausend Seen“ genannt. Die finnische Seenplatte ist das Herz des Landes; über 90 % Finnlands sind von Wäldern oder Wasser bedeckt. Es gibt knapp 188.000 Seen und fast ebenso viele Inseln. Somit hat Finnland das größte Seengebiet Europas. Durch dieses blaue Labyrinth erstrecken sich Hügelrücken mit gewaltigen Wäldern, die in das finnische Hügelland im Osten übergehen.

Im Gegensatz dazu steht Lappland – die größte, aber am wenigsten besiedelte finnische Landschaft. Im nördlichsten Teil des Landes geht im Sommer die Sonne niemals unter und im Winter ist es fast vollständig dunkel. Die Natur ist rauer und das Wetter extremer. Verhältnis­mäßig milde Sommer und sehr kalte, schnee­reiche Winter prägen das Jahr. Der Hauptteil Lapplands liegt nördlich des Polarkreises.

Lediglich die berühmten Nordlichter bringen ein wenig Farbe in den düsteren Alltag des Winters. Im Sommer kann man vorbei an rauschenden Wasser­fällen durch weitläufige un­berührte Wälder und Moor­landschaften zu tiefen Schluchten wandern. Das Reiseportal Visit Finland beschreibt es als eine „Region voller Magie und Gegensätze“.

Anzahl der Seen in Finnland
0
Wälder und Wasser 90%

Finnlands Landfläche

größter See in Finnland
0 km²

Ein Geschenk der letzten Eiszeit

Das nächste Extrem schafft Finnland mit der größten Schärenlandschaft der Welt, die sich vor der westlichen Küste des Landes in die Ostsee erstreckt. Hier kann man auch die meisten Inseln der Welt zählen, die die letzte Eiszeit den Finn:innen geschenkt hat. In der sonnigsten Region Finnlands ist Entschleu­nigung angesagt. Die endlose Weite der See sorgt für ein ganz besonderes Lebensgefühl.


Wer aber denkt, dass nur die Natur in Finnland extrem ist, der irrt. Die finnische DNA ist die vielseitigste in ganz Europa. Zu ihrem Jubiläum wollten die Finn:innen diese Vielfältigkeit der ganzen Welt zeigen. Dazu hat eine Kreativagentur aus Helsinki in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftler Jonathan Middleton, Professor der East Washington University, ein Programm entwickelt, um die unterschiedlichen DNA-Strukturen der Regionen in Soundfragmente zu verwandeln.

Klassik vs. Metal

‍In den meisten Teilen Finnlands herrscht eine raue Grund­stimmung, die viel Einfluss auf das Leben der Menschen hat. Nicht umsonst ist die Metalszene in Finnland sehr stark ausgeprägt. Aus diesem Grund konnte die Wahl des Komponisten eigentlich nur auf den Cellisten der Band Apocalyptica, Eicca Toppinen, fallen: melancholisch, hart, unbeugsam, auch ausgelassen, kreativ und verrückt. Einst Schüler der Sibelius-Akademie in Helsinki, wird er so zum musikalischen Botschafter Finnlands.

Ein Land, das geprägt ist von Kontrasten und Gegensätzen. Das wollte Eicca Toppinen auch mit den Musikstücken zum Ausdruck bringen. Er selbst beschreibt seine Kreationen als „Kombination aus klassischen Elementen und sehr progres­sivem, epischem und symphoni­schem Metal“. Doch bis Eicca Toppinen mit dem Komponieren beginnen konnte, bedurfte es einer Menge Vorarbeit.

Die Wissenschaftlerinnen Päivi Onkamo, Dozentin an der Universität Helsinki, und Johanna Saarela,  Forschungsdirektorin im Institut für Molekularmedizin der Universität Helsinki, extrahierten die DNA von Menschen, die an den äußersten Punkten Finnlands leben. Wie die Landschaften unterscheidet sich auch die Genetik der Menschen. Diese DNA wurde mithilfe des Musikers und Universitätsprofessors Jonathan Middleton in Buch­stabenfolgen umgewandelt.

Naturgegeben tauchen diese Buchstabenfolgen in Dreier­gruppen auf, die man Codons nennt. Aus diesen Gruppen ermittelte man im Anschluss Zahlen, die sich an der Anzahl der Pianotasten orientieren, also 1–‍88. Die 0 steht für Stille. So können den Zahlen schluss­endlich die benötigten Noten zugeordnet werden. Die Noten und die Länge eines Tons werden mit Hilfe der Software Music Algorithms festgelegt, die im Internet zur freien Verfügung steht. Entwickelt wurde die Software eigentlich, um Mediziner:innen die Arbeit zu erleichtern: Unterschiede in der Beschaffenheit von Protein­gruppen sollen dann am Ton erkennbar sein.

Minimalismus und Natur

Für die Symphony of Extremes wurden unter anderem die Proben von Tinja Myllykangas verwendet. Sie ist eine junge Finnin, die Hundeschlitten-Safaris in Lappland, also im hohen Norden Finnlands, anbietet. Tinja ist komplett von der Außenwelt abgeschnitten und hat keinen Zugang zu Strom oder fließendem Wasser. Sie ist ein gutes Beispiel für die finnische Lebens­einstellung: Minimalismus und die Verbunden­heit zur Natur stehen im Vorder­grund. Selbst in der dunklen Jahreszeit fühlt Tinja Myllykangas sich lebendig und energie­geladen. Um keinen Preis der Welt würde sie ihr derzeitiges Leben gegen das in der Stadt eintauschen wollen. Dies deckt sich auch mit der finnischen Lebensphilosophie Sisu. 

Sisu ist ein Gefühl und eine Verhaltensweise. Das Gefühl steckt im Bauch und treibt einen voran. Es macht zäh. Die Bewohner:innen des rauen Landes lieben die Heraus­forderung und nehmen nie den einfachsten Weg. Wieso sollte ich im Winter mit dem Auto in die Stadt fahren, wenn ich auch mit dem Fahrrad durch den tiefen Schnee komme? Das Extreme stecke in ihrer DNA, sagen die Finn:innen. Und da könnte etwas dran sein: Die finnischen DNA-Stränge sollen laut Genetikern einzigartig in Europa sein. 

Das perfekte Instrument

Die Musik, die im Prozess der Erschaffung der Symphony of Extremes entstand, ist sehr melodisch und tief. Kein synthetischer Klang, sondern vielschichtiger Cello-Metal. Kaum ein anderes Instrument hat so viele Klang- und Ausdrucks­möglichkeiten wie das Cello zu bieten. Das Streichinstrument kann weich und edel, ruhig und erhaben, aber auch schneidend, kraftvoll und leidenschaftlich und manchmal fast übersinnlich klingen. Jede Saite besitzt einen eigenen Charakter. 

In großen Orchestern fristet das Instrument oft ein eher tristes Dasein als Begleiter. Aus Mangel an überzeugenden Solostücken gründeten 1993 vier finnische Cellisten die Band Apocalyptica, um die Vielfältigkeit des Cellos zu demonstrieren. Unterstützt von einem Schlagzeug überzeugt die Band bis heute mit Ausdrucks­stärke. Das sie mehr als „nur“ Metal können, haben sie eigentlich schon 2013 bewiesen, als sie gemeinsam mit dem MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Kristjan Järvi Wagners 200. Geburtstag unter dem Motto „Wagner reloaded“ zelebrierten.

Für dieses einzigartige Projekt, Finnland in Musikform zu präsentieren, war Eicca Toppinen mit seinem Cello und seiner Band also genau die richtige Wahl.

Noten aus DNA-Sequenzen

Eicca Toppinen erklärte das Zusammenspiel von Musik und DNA folgendermaßen: „Die DNA-Sequenzen sind auf verschiedene Weise Teil davon und ich bin sicher, dass man auch einige hören kann. Einige erkennt man nicht, weil sie in den Riffs verborgen sind und diese sind vielleicht kein klares Spiegelbild des Klanges dieser DNA. Aber es gibt einige Elemente und Klänge, die die DNA wirklich beschreiben. Die tatsächlichen Noten orien­tieren sich an den Sequenzen und die basieren auf den echten DNA-Sequenzen.“ Die wichtigsten Quellen der Inspiration waren für Toppinen nicht nur die gesam­melte DNA, sondern auch die wilde Natur Finnlands.

Eicca Toppinen sagte in einem Interview für die Kampagne gegenüber Visit Finland, dass er die raue Natur Finnlands durch seine langen Konzert-Touren um die Welt nochmal neu und mehr zu schätzen gelernt hat. Das Land mit all seinen Facetten und Gegensätzen sei einmalig. Wie in so vielen Fällen hat diese künstlerische Meister­leistung aus Finnland viel zu wenig Beachtung gefunden, zu leise ist die Stimme aus dem Norden. Ein Blick über den Ostsee­tellerrand lohnt sich! 

Foto –––– © pexels tobias bjørkli
Foto –––– © pexels rakicevic nenad
Foto –––– © pixabay zoltan tot

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