Toxische Männlichkeit
Heul nicht, oder bist du etwa ein Mädchen?
- Autor:innen: Ursula Schütz; Idee: Vasilev
- Layout: admin-akzente
- Veröffentlicht: 13. Juli 2022
- Kategorie: Gesellschaft
Köln-Ehrenfeld, Takuplatz. Eine Gruppe junger Männer trinkt Bier, albert herum. Zwei beginnen sich zu schubsen, es wird rauer. „Alter, hast du keine Eier oder was? Was bist du denn für ne Schwuchtel?“ Gerade einmal zwei Sätze und etwas körperlichen Einsatz braucht es, um die Botschaft an den Mann zu bringen: Du bist nicht so, wie du sein sollst. Nicht stark. Nicht hetero. Feige.
Solche Szenen sind alltäglich, wie auch die Vorstellung von Männlichkeit, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Wird sie eingefordert, wirkt sie wie Gift – toxisch eben. Die sogenannte toxische Männlichkeit, auch als toxische Maskulinität bezeichnet, betrifft Rollenbilder, Verhaltensweisen, soziale Praktiken und Konventionen sowie Machtstrukturen innerhalb einer Gesellschaft.
Sie zeigt sich wie in der Szene auf dem Takuplatz in scheinbar banalen Sätzen, die jede:r von uns schon einmal gehört hat: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“, „Na, du stehst ja ganz schön unter dem Pantoffel“ oder eben „Heul nicht, oder bist du etwa ein Mädchen?“. Sie zeigt sich darin, dass kleine Jungs verspottet werden, weil sie Eiskunstlauf lieber mögen als Fußball. Dass Männer Frauen häufiger unterbrechen als umgekehrt und dieses Verhalten als normal gilt. Dass Frauen bei gleicher Qualifikation nach wie vor weniger verdienen als Männer und dass Frauen, die im Internet feministische Positionen vertreten, mit Vergewaltigungsdrohungen rechnen müssen.
Toxische Männlichkeit hat auch lebensbedrohliche Konsequenzen: Statistisch gesehen nehmen Männer seltener Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch als Frauen; sie leben ungesünder und holen sich bei gesundheitlichen und insbesondere psychischen Problemen seltener Hilfe. Sie sterben rund drei Mal so häufig wie Frauen durch Suizid und begehen 80 % der Gewaltstraftaten hierzulande, wobei 80 % der Opfer Frauen sind. All dies liegt zumindest teilweise in schädlichen Vorstellungen von Männlichkeit begründet.
Verhältnis Suizidsterberate Mann : Frau

Kein feministischer
Kampfbegriff
Der Gedanke, dass Männlichkeit toxisch sein könnte, wird oft als männerfeindlich empfunden. Dabei zielt der Begriff der toxischen Männlichkeit keineswegs darauf ab, Männlichkeit oder gar Männer allgemein zu kritisieren. Vielmehr will er die verheerenden Folgen aufzeigen, die die Überhöhung von „typisch männlichen“ Eigenschaften hat – für Männer ebenso wie für Frauen.
Männlichkeit und Weiblichkeit werden in vielen Gesellschaften dichotom konzipiert, als vermeintliche Gegensätze ohne Überschneidungen. Typische Begriffspaare in diesem Zusammenhang sind aktiv/passiv, rational/ emotional, wortkarg/redselig oder stark/schwach. In unserem kollektiven Bewusstsein werden diese Eigenschaften automatisch den Geschlechtern zugeordnet. Mehr noch: In den meisten Fällen sind sie mit einer Abwertung all dessen verknüpft, was nicht männlich konnotiert ist. Und über die Herabsetzung von als weiblich geltenden Eigenschaften wird wiederum die Vormachtstellung des Mannes gesichert: Frauenhass wird als politisches Instrument und Kontrollmechanismus zur Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen eingesetzt.
Gefühle – nur was
für Weicheier?
Auf den ersten Blick scheinen Männer also von diesen Mechanismen zu profitieren. Viele machen jedoch eine Erfahrung, die Frauen nur allzu vertraut ist: Sie erleben die starren Geschlechterrollen, an denen sie gemessen werden, als leidvoll. Wenig scheint das Selbstverständnis von Jungen und Männern stärker ins Wanken zu bringen als ein Abweichen von den gesellschaftlichen Normen bezüglich Maskulinität.
Eine dieser Normen reglementiert den Umgang mit Emotionen: Von Männern wird traditionell erwartet, dass sie ihre Gefühle unterdrücken, sie weder zeigen noch in Worten ausdrücken; insbesondere nicht als „schwach“ bewertete Gefühle wie Angst oder Traurigkeit. Wut oder Aggression hingegen gelten bei Männern als akzeptable Gefühlsäußerungen, was dazu führt, dass es vielen Männern oft schwerfällt, eigene Ängste und Unsicherheiten überhaupt wirklich wahrzunehmen und zu benennen – zu tief sitzt das kulturelle Dogma des starken Mannes.
Der Satz „Heul nicht, oder bist du etwa ein Mädchen?“ zeigt dabei anschaulich genau diese beiden Mechanismen. Zum einen werden Männer darin beschränkt, in welcher Form sie ihre Gefühle ausdrücken dürfen. Zum anderen funktioniert er als Beleidigung nur deswegen so gut, weil er an die unterbewusst immer noch vorhandene gesellschaftliche Vorstellung anknüpft, Frauen hätten einen niedrigeren Status als Männer. Wenn ein Mann bestimmte Gefühle oder Schwächen offen zeigt, wird er „weniger“ als ein Mann – er wird zu einer Frau.
Gewalt als Folge
toxischer Maskulinität
Auf diese Weise fördert toxische Männlichkeit dominant-aggressives Auftreten und letztendlich auch die Ausübung männlicher Gewalt. Noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war diese in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert und wurde nur wenig kritisiert. Auch die Gesetzeslage spiegelt die lang verbreitete Akzeptanz männlicher Gewalt gegenüber Frauen wider. Besonders traf dies jene Frauen, die in ihrer Ehe sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Als Straftat existierten Vergewaltigungen nämlich bis Ende des 20. Jahrhunderts nur, wenn sie außerhalb der Ehe erfolgten. Dieses Gesetz wurde erst 1997 geändert. Gegen seine Reform stimmten unter anderem zwei Abgeordnete, die auch heute noch zur Polit-Prominenz zählen: Friedrich Merz, seit Anfang 2022 CDU-Parteivorsitzender, und Horst Seehofer, aktuell Ehrenvorsitzender der CSU.
Überhaupt markieren die 90er Jahre einen gleichwohl späten Wendepunkt, was den Blick des Gesetzgebers auf häusliche Gewalt betrifft. So setzte sich etwa international die Erkenntnis durch, dass Gewaltakte an Frauen Menschenrechtsverletzungen sind, die staatlich zu unterbinden und folglich gesetzlich zu regeln sind. Auf dieser Einsicht beruht auch das 2001 beschlossene deutsche Gewaltschutzgesetz, das Opfer besser schützen soll. Noch später, nämlich Ende 2016, wurde schließlich auch das Sexualstrafrecht reformiert und das Prinzip des „Nein heißt Nein“ endlich gesetzlich erfasst. Erst seit dieser Reform, also gerade einmal fünf Jahren, gelten auch sexuelle Übergriffe als eigener Straftatbestand und der erkennbare Wille des Opfers wird als ausschlaggebend für die Rechtsprechung einbezogen. Einfacher formuliert reicht ein simples „Nein“ oder „Hör auf“ aus, um erkennbar zu machen, dass man mit einer sexuellen Handlung nicht einverstanden ist. Wer sich über diese Willensbekundung hinwegsetzt, macht sich strafbar.
Trotz all dieser gesellschaftlichen und rechtlichen Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, ist männliche Gewalt gegenüber Frauen auch heute noch ein höchst aktuelles Problem, denn Denkstrukturen und Glaubenssätze verändern sich nur langsam. Die #MeToo-Bewegung sowie der teilweise extrem reaktionäre, frauenfeindliche Umgang mit der Thematik illustrieren dies auf unschön eindrucksvolle Weise.
„You have to treat
them like shit“
Donald Trump
Auf dem politischen Parkett sind sexistische und frauenfeindliche Kommentare ein seit langem salonfähiges Mittel, um Macht zu demonstrieren. Wie erschreckend fragil sämtliche Fortschritte sind, die in den letzten Jahrzehnten in dieser Hinsicht erzielt wurden, wird durch den veränderten Umgangston seit dem Einzug der AfD ins Parlament offenbar. Der Spiegel gibt die Ergebnisse einer Umfrage unter weiblichen Abgeordneten wie folgt wieder: „72 Prozent bejahten die Frage, ob sie Frauenfeindlichkeit innerhalb des Parlaments erlebten. Wenn eine Frau rede, werde der Lärmpegel höher, es werde gequatscht, laut und derb dazwischengerufen. Die weibliche Sitzungsleitung werde nicht begrüßt, Parlamentarierinnen würden ungefragt geduzt.“ (Der Spiegel, Frauenfeindlichkeit im Bundestag durch AfD gestiegen, 21.02.2021)
Auch misogyne Sprüche sind im Bundestag nicht tabu. So forderte beispielsweise Enrico Komning (AfD) mit Blick auf den Platz der Kanzlerin: „Wer keine Eier hat, sollte nicht regieren.“ Der damalige Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) offenbarte im Wahlkampf 2021 im Brigitte-Talk seine gönnerhafte Geisteshaltung mit den Worten: „Als Mann kann ich besser für Gleichberechtigung sorgen als eine Frau.“ Tabea Rößner von den Grünen zitiert die Aussage eines AfD-Abgeordneten: „Geh doch zurück an den Herd“. Nach 16 Jahren unter einer weiblichen Bundeskanzlerin ein trauriges Fazit.
Erkennen,
reflektieren,
verändern
Toxische Männlichkeit hat offenkundig negative Auswirkungen auf alle Geschlechter. Sehr einseitig hingegen wirken sich die Privilegien aus, die durch sie gesichert werden und die letztlich nur Männern zugutekommen: bessere Aufstiegsmöglichkeiten, höhere Gehälter, größere politische Macht und, in letzter Konsequenz, mehr Freiheiten in der Lebensführung. Entsprechend schwierig ist es für Männer, genau jene Gedanken- und Verhaltensmuster zu hinterfragen oder gar aufzugeben, die ihnen zu diesen Vorteilen verhelfen, die oft nicht mal als solche wahrgenommen werden. Es fehlt schlicht an der Erfahrung von Benachteiligung. Männer „werden niemals nachfühlen können, was es bedeutet, auf allen Ebenen strukturell benachteiligt und permanent sexualisiert und objektiviert zu werden“, schreibt Sebastian Tippe in seinem Buch „Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern“. Und er führt aus: „Der erste Schritt für uns ist daher die Anerkennung von toxischer, mit Privilegien einhergehender Männlichkeit im patriarchalen und kapitalistischen System. Es ist ein Anfang, wenn wir beginnen, Frauen zuzuhören, ohne uns angegriffen zu fühlen, ihre Realität nicht infrage stellen und sie auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Gesellschaft begleiten.“
Erste Organisationen und Verbände haben diesen Weg eingeschlagen. „Echte Männer reden“ heißt beispielsweise ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes Beratungsangebot des SKM-Bundesverbands, das zweierlei Ziele verfolgt: Zum einen soll die Zielgruppe erkennen, dass es auch für sie normal ist, Probleme zu haben und sich Hilfe zu holen. Zum anderen möchte das Projekt dazu beitragen, die Strukturen zu identifizieren und anzugehen, die der Chancenungleichheit zwischen den Geschlechtern zugrunde liegen. Des Weiteren hat der Verband eine Multiplikatoren-Weiterbildung zur „Männerfokussierten Beratung“ für Fachleute aus der Sozialarbeit im Programm.
Auch auf europäischer Ebene hat man sich des Themas angenommen. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen beispielsweise hilft Institutionen und Mitgliedsstaaten der EU, die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben. In der Privatwirtschaft hat Beyond Gender Advice auf sich aufmerksam gemacht, eine Beratungsagentur, die Unternehmen wie die Deutsche Bahn, Apollo und Douglas bei Diversitäts-, Chancengerechtigkeits- und Inklusionsvorhaben unterstützt.
Ein kleiner Anfang ist also gemacht, und er zeigt auf, dass die Veränderungen auf mehreren Ebenen ansetzen müssen. Sie bedeuten die Aufgabe von Privilegien, aber nicht das Ende der Freiheit. Denn das Ziel dieses Hinterfragens und Aufbrechens bestehender Rollenbilder ist weder, dass Männer und Frauen genau gleich sein sollen, noch eine Welt, in der sich Männer so verhalten müssen wie Frauen. Ziel ist eine neue, freiere Definition davon, was einen Mann ausmacht. Und diese Freiheit beginnt im Kopf jedes Einzelnen.

Foto –––– © pexels.com / Karolina Grabowska
Foto –––– © pixabay.com / OrnaW
JETZT TEILEN
Weitere spannende Artikel für Dich

Sag ich´s oder sag ich´s nicht?
Sag ich’s oder sag ich’s nicht? Mit chronischer Erkrankung im Arbeitsleben Soll ich meine chronische Erkrankung am Arbeitsplatz offenlegen oder

KI: Aufbruch oder Untergang
In was für einer faszinierenden Zeit wir doch aktuell leben. Alles schreitet stetig voran

Lieblingslistenlust
„Soll ich dir von Manfred geben!“ Der grinsende Kleene feuert mir ein zerknülltes Papier in den Schoß und rennt sofort zurück zu den großen Jungs.