Wenn die Worte fehlen
Kreatives Gestalten als Therapieform
- Autor:innen: Nadine O.
- Layout: Ehemalige TN
- Veröffentlicht: 05. April 2023
- Kategorie: Wissen
Den Begriff „Kunsttherapie“ hat sicherlich jede:r schon einmal gehört. Was ist das eigentlich genau? Was, wenn sich jemand nicht für kreativ hält oder schlichtweg denkt, er oder sie könne nicht malen? Kann diese Therapieform dann trotzdem einen Mehrwert haben?
Es gibt mittlerweile viele verschiedene Ansätze in der kunst- und gestaltungstherapeutischen Arbeit. Eines haben diese jedoch alle gemeinsam:
Es geht nicht darum, ein schönes Bild zu malen!
Vielmehr geht es darum, sich und seinen Gefühlen Raum zu geben und durch spielerisches (Wieder-)Entdecken der eigenen Kreativität eine neue Ausdrucksmöglichkeit zu erfahren. Sich jenseits des gesprochenen Wortes den eigenen inneren Bildern zu öffnen. Es geht darum, sich neuen Ausdrucksformen zu öffnen, um verborgene Gefühle und Erlebnisse sichtbar zu machen – die Dinge, für die uns Worte fehlen. Sie mit Aquarell, Ton, Kreide, Acrylfarben oder auch Materialien aus der Natur spürbar, anschaubar und greifbar zu machen. Aber es geht auch darum, sich auszuprobieren und persönliche Blockaden zu identifizieren.
Beispiel: der Typus der Perfektionisten

Sie sind detailverliebt und haben den Anspruch, sich selbst und andere zu übertreffen. Dafür sind sie selbstredend bereit, Überstunden zu leisten und über ihre Grenzen zu gehen. Womöglich könnte dieser Persönlichkeitstyp in der Kunsttherapie während der Auseinandersetzung mit vorgegebenem Arbeitsmaterial an einen Punkt gelangen, der ihn in seiner starren Vorstellung des perfekten Bildes blockiert. Und dies wiederum könnte und sollte in der persönlichen Entwicklung bearbeitet werden.
Wie kann ich mir die Kunsttherapie konkret vorstellen?
Im ambulanten Bereich findet die Einzel- oder Gruppensitzung je nach Bedarf wöchentlich, zweiwöchentlich oder auch nur monatlich statt. In der Einführung können die Teilnehmenden Anliegen, Sorgen und Wünsche ansprechen, müssen dies jedoch nicht. Während der Sitzung werden Bilder, Zeichnungen, Collagen, Figuren usw. kreiert. Das Material und Thema der jeweiligen Gestaltungsarbeit wird in der Regel von den Ergotherapeut:innen festgelegt oder in der Gruppe besprochen. Während des kreativen Prozesses hält sich die Ergotherapeutin im Hintergrund, darf aber Hilfestellungen und Impulse geben. Im Anschluss erfolgt die wertfreie Reflexion der entstandenen Werke, gemeinsam in der Gruppe und mit der/dem Therapeut:in.
Unter der Voraussetzung „jede:r darf, niemand muss“ können alle ihre Arbeit vorstellen und mit der Gruppe besprechen.
Oft gibt es wohlwollendes Feedback anderer Teilnehmer:innen, manchmal auch Anregungen und überraschende, erfrischend andere Sichtweisen zur eigenen Interpretation. Bei der offenen Diskussion ist es durchaus erwünscht mitzuteilen, wie sich jemand während des Gestaltungsvorgangs fühlte oder warum man sich für einen bestimmten Bildaufbau oder eine bestimmte Farbgebung entschieden hat. Über die eigene Arbeit zu reden, fällt vielen Menschen oft leichter als über die eigenen Gefühle.
Üblicherweise fragt der/die Therapeut:in in einer Abschlussrunde, mit welchen Eindrücken und Gefühlen die Teilnehmer:innen die Sitzung nun verlassen. So wird jede Therapiestunde auf eine indirekte Art direkt erfassbar und regt oft noch lange über die eigentliche Stunde hinaus zur Reflexion an.
Wenn Gespräche und Medikamente nicht Reichen
Vor allem bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Essstörungen, aber auch z. B. bei Krebserkrankungen bedeutet die Kunsttherapie oft eine wertvolle Unterstützung. Als eigenständige Therapieform findet sie sich eher selten, daher ergänzt sie oft medizinische und psychologische Behandlungsmaßnahmen im Rahmen von klinischen Therapiekonzepten. Die Kunsttherapie kann aber auch im ambulanten Rahmen stattfinden.

Spiegel der Seele
Die Kunsttherapie bietet Menschen also einen geschützten Raum, in dem sie ihre Gefühle ausdrücken und oft verborgene Fähigkeiten entdecken können. Sie dient der Selbsterforschung und dem Aufbau von Selbstvertrauen. Im Idealfall hilft sie, problematische Situation anzunehmen und (neue) Lebensziele zu entdecken.
Jeder Schaffensprozess und jedes Werk ist so individuell wie sein:e Schöpfer:in und deren bzw. dessen Geschichte. In der Kunsttherapie geht es darum, sich auszuprobieren, über sich hinauszuwachsen und in einer Gruppe Wertschätzung und Verständnis zu erfahren. Es gilt, eigene Ressourcen und Stärken zu reaktivieren und sich selbst wieder als wertvoll wahrzunehmen. Man erlebt sich „in der Handlung“, also wieder als handlungsfähig. Als Mensch, der etwas „erschafft“ und auch „schafft“. Die Reflexion des eigenen Werkes spielt hierbei eine zentrale Rolle.
Kunst produziert Reflexion. Selbstreflexion.
Die Reflexion mit den Kunsttherapeut:innen in der Gruppe oder auch das eigene Verbalisieren des Schaffensprozesses, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Kunstwerk ermöglicht eine neue Betrachtungsweise der Künstlerin oder des Künstlers. Durch Impulse, Assoziationen und Emotionen werden innere Bilder sichtbar und interpretierbar. Es entsteht Selbstreflexion durch Reflexion.
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