Wie ich mich peu à peu meinem Glück nähere. Von S.C.
- Autor:innen: S.C.
- Layout: H.F.
- Veröffentlicht: 28.04.2023
- Kategorie: Storys
Im Gymnasial-Alter setzte ich mich immer wieder gerne mit philosophischen Gedanken auseinander. Unter anderem teilte ich die Meinung Sartres: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Meine Mutter gab der Hölle eine andere Definition: „Die Hölle, das ist das Leben auf der Erde.“
Sehr lange war ich – wie der französische Philosoph Sartre – fest davon überzeugt, dass die Hölle die anderen waren. Nachdem ich ein halbes Jahrhundert überwiegend mit Konflikten zwischen mir und meinen Mitmenschen konfrontiert worden war, reifte endlich die Frucht meiner ausgeprägten Lektüre und mir wurde bewusst, inwieweit die anderen doch kostbare Geschenke für mich sein konnten.
Von nun an betrachte ich mein Gegenüber nicht mehr wie die Quelle meiner Sorgen, sondern wie einen Spiegel, in welchem ich mich betrachte, um mich kennenzulernen. Das heißt nicht, dass ich wie mein Gegenüber bin. Nein, das ist viel subtiler.
Ich lerne mich kennen, indem ich den Fokus darauf richte, meine Gefühle herauszufinden bzw. zu identifizieren, wenn ich das Verhalten meines Gegenübers beobachte. All diese Gefühle sind ein Teil von meiner Persönlichkeit bzw. ein Spiegelbild dieser. All diese Gefühle bilden meine Persönlichkeit.
Meistens spüre und fühle ich eine Reizung oder Bewunderung. Die Reizung deutet auf einen Teil in mir, den ich nicht mag. Die Bewunderung auf einen Teil in mir, der mir bisher noch nicht bewusst war.
Wenn ich eine Reizung spüre, bedeutet dies, dass mein Gegenüber mir einen Teil meiner Persönlichkeit widerspiegelt, den ich nicht mag bzw. nicht sehen möchte. Aufgrund dessen stört mich sein Verhalten.
Wenn ich eine Bewunderung spüre, bedeutet dies, dass mein Gegenüber mir einen Teil meiner Persönlichkeit widerspiegelt, der mir gefällt. Möglicherweise ist es mir noch nicht bewusst, dass diese Stärke bereits ebenfalls in mir liegt.
Kurz gesagt: Das Verhalten anderer vermittelt mir Auskunft über mich selbst. Was mir bei meinem Gegenüber auffällt – ob es mich stört oder ob ich es bewundere – ist stets ein Teil von mir.

Um harmonisch mit mir selbst zu leben, habe ich mich dafür entschieden, meine Person so zu akzeptieren, wie sie ist: Ich nehme meine Talente und Grenzen an. Meine Grenzen sollen nicht in Lernfelder umgewandelt werden. Sie haben ihre Daseinsberechtigung. Wie alles auf dieser Erde haben meine Grenzen zwei Seiten und in bestimmten Situationen spielen sie in meinem Leben eine positive Rolle.
Zwar falle ich hin und wieder noch in meine alten Strukturmuster zurück, doch die Erkenntnis darüber entsteht bei mir meistens blitzschnell, die Umsetzung hingegen jedoch eher langsam. Dafür betrachte ich von nun an den Konflikt als Symptom, das mich darauf hinweist, dass ich mich von der Umsetzung meiner Erkenntnisse entferne. Darin sehe ich die Chance, diese nicht beabsichtigte Abzweigung noch rechtzeitig zu korrigieren.
Eine Reizung spüre ich, wenn mein Gegenüber meine Meinung nicht berücksichtigt: Ich fühle mich durchsichtig, inexistent. Ich fühle mich weder gehört noch respektiert. Wenn die Autorität von mir ein Verhalten verlangt, das ich für ungeeignet oder gar verboten halte, spüre ich viel Wut. Mir wird klar, dass sich ein Konflikt mit meinem Gegenüber anbahnt.
Von nun an habe ich verstanden, warum mich das Verhalten von anderen so sehr stören kann: Ein Aspekt von mir, den ich nicht sehen will, wird mir widergespiegelt. Das Aushalten dieses Anblicks löst in mir ein Kontra bzw. Wut aus.
Nach und nach entdeckte ich mich und nahm mein Verhalten wahr. Auf diese Weise erkannte ich, dass ich anderen nicht zuhörte und in meinem Glauben eingesperrt war. Ferner war ich fest davon überzeugt, dass mein Glaube allgemeingültig wahr war. Nun weiß ich: Woran ich glaube, ist nur für mich wahr. Die anderen dürfen andere Weltanschauungen für richtig halten. Wir sind alle auf dem Weg der Erkenntnis und jeder von uns trägt einen Rucksack mit unterschiedlichen Erfahrungen mit sich. Erfahrungen auszutauschen kann bereichernd sein, jedoch nichts kann die eigene Erfahrung ersetzen.
Seitdem versuche ich, nicht weiterhin zu predigen. Als ich wie bisher versuchte, mein Gegenüber von meiner Weltanschauung zu überzeugen, berücksichtigte ich seine Meinung nicht. Er fühlte sich durchsichtig, inexistent. Er fühlte sich weder gehört noch respektiert. Ich habe verstanden, dass ich ihn unbewusst in einem Raum einsperrte und so seine Bedürfnisse nicht berücksichtigte.

Bewunderung spüre ich, wenn ich eine Person sehe, die gerade steht und mit einem sicheren Gang souverän auftritt. Ich bin auch von der Eleganz einer Person sehr beeindruckt. Ich liebe es, den Stoff, den Schnitt ihrer Kleidung, ihr Gesicht, den Ausdruck ihres Blickes, ihr gepflegtes Aussehen und ihren Haarschnitt anzuschauen.
So erwische ich mich immer wieder dabei, Menschen auf der Straße anzustarren, weil sie mein Interesse geweckt haben. Diese Situation ist von kurzer Dauer, wenn die Person an mir vorbeigeht. Hin und wieder bleibe ich stehen, um das Auftreten der Person besser beobachten zu können, wenn diese beispielsweise auf einer Bank sitzt oder vor einem Schaufenster steht. Ich schenke meinen Augen dieses kostenfreie und lohnende Spektakel. Ich erlebe genauso viel Freude bei der Bewunderung einer Person wie bei der Bewunderung eines frei lebenden Tieres in der Natur. Ich schaue sie mit den Augen einer Künstlerin an, die ein Kunstwerk bewundert. Manche bezahlen, um Kunst im Museum zu bewundern, während ich hingegen meine Seele von den kostbarsten, kurzlebigen Schätzen in meiner Umgebung nähre.
P.S.: Nicht übel nehmen, wenn Sie sich demnächst beobachtet fühlen. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege. Nun wissen Sie, dass ich Sie bewundere und mich selbst dabei näher kennenlerne.
Foto –––– © Rudy and Peter Skitterians, Pixabay
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