von C.B.

Ich bin anders. Das war irgendwie immer schon so. Als Kind, in der Schule und überhaupt. „Stell Dich nicht so an!“, „Sei nicht so empfindlich!“, „Reiß Dich mal zusammen!“ Solche „Empfehlungen“ ziehen sich durch mein ganzes Leben – bis heute. Und ich bin jetzt 41

Dass ich anders bin, habe ich schon früh gemerkt. Aber ich hatte keine Erklärung dafür und habe die Schuld immer bei mir gesucht. Schuld? Ist das überhaupt das richtige Wort? Heute weiß ich, was da anders ist: HSP! Das bedeutet High Sensitive Person, beschreibt also Menschen, die die Welt deutlich intensiver wahrnehmen. Ich bin also eine HSP! Ich bin hochsensibel. Ist das eine Krankheit? Nein! Es ist definitiv eine Last für mich, die ich zu tragen habe. Aber ich versuche es mittlerweile auch als positive Eigenschaft zu sehen. Auch wenn sensibel zu sein in der Gesellschaft immer noch als Manko gilt.

Wie lange bin ich schon eine HSP?

Keine Ahnung. Bei manchen entwickelt es sich mit der Zeit, manche sind es schon von Geburt an. Ich gehöre vermutlich zu der Gruppe, in denen es schon immer schlummerte und es irgendwann richtig raus wollte. HSP ist als Diagnose nicht anerkannt. Aber es ist ja auch keine Krankheit, sage ich mir immer. HSP sind allerdings anfälliger für Burn-out und Depressionen – so wie ich. Für Ärzt:innen und Therapeut:innen ist es damit doppelt schwer, die Symptome richtig einzuordnen.

Was bedeutet es, eine HSP zu sein?

Es gibt verschiedene Ausprägungen. Manche sind zum Beispiel visuell sehr reizbar, manche eher akustisch. Ich bin irgendwie alles ein bisschen. Ich versuche es mit einem Beispiel zu beschreiben: Ich gehe mit meinem Freund durch die Einkaufsstraße in Köln. Unsere Shopping-Tour hat gerade erst begonnen, aber ich bin total reizüberflutet und ganz aufgewühlt. Wir biegen in eine Seitenstraße und reden kurz. „Menschen, überall Menschen – ohne Maske. Hast du die mit der roten Hose gesehen? Oder den schmatzenden Typen vor uns? Und in dem Fensterladen habe ich was Schönes gesehen.“ Es sprudelt aus mir raus. Mein Freund zuckt mit den Schultern: „Nö, ist mir nicht aufgefallen.“ Er ist tiefenentspannt – unglaublich. Mir ist es immer noch ein Rätsel wie andere Menschen nicht alles wahrnehmen können, was für mich so offensichtlich ist. Und manchmal bin ich ein wenig neidisch, weil sie vermeintlich viel entspannter durchs Leben gehen.

Mein Stresslevel ist einfach immer etwas höher als bei anderen. Geräusche und Gerüche – damit fängt es schon an. Zum Beispiel wenn ich morgens versuche, noch halbwegs entspannt zu frühstücken und die Nachbar:innen schon durchs Haus poltern. Oder wenn ich dann aus dem Haus gehe und die Nachbarin, die vor mir raus ist, die halbe Parfumflasche über sich gekippt haben muss. Und wozu Türklinken benutzen, wenn es mit Schwung doch auch geht. Die Leute im Straßenverkehr, die wohl auch im Supermarkt an der Kasse direkt in meinen Nacken atmen und jetzt an meiner Stoßstange hängen. Wieso sind Menschen so? Wieso nimmt denn keiner Rücksicht? Für vieles, was mich nervt, können die Anderen nichts. Das weiß ich – besänftigt mich aber wenig. Sehr intensiv erlebe ich Dinge wie tiefe Brummelstimmen, quietschende Türen, Kaugeräusche, monotone Maschinensounds, laute Telefongespräche oder das Donnern des Verkehrs vor meinem Schlafzimmer. Bei Emotionen anderer empfinde ich schnell mit, ich nehme Stimmungsschwankungen anderer wahr, bin nah am Wasser gebaut – wie man so unschön sagt. Ich bin extrem aufmerksam, wenn andere Bedürfnisse und Wünsche äußern, nehme vieles persönlich, erschrecke mich schnell und drehe mich immer um, wenn jemand im Flur an meiner Tür vorbeigeht. Das ist nur ein kleiner Teil meines Alltags.

Dazu brauche ich Auszeiten, in denen ich Kraft tanken kann. Ruhe und Schlaf sind meine Ladestationen. Und ich muss deutlich öfter laden als der Durchschnittsmensch. Aber das ist kaum möglich. Rückzugsmöglichkeiten am Arbeitsplatz sind mir leider fremd. Sich kurze Auszeiten nehmen ohne schlechtes Gewissen gegenüber Kolleg:innen oder ohne Rechtfertigungen gegenüber Vorgesetzten sind für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Weil Hochsensible gerne alles richtigmachen wollen – für andere und deutlich zu selten für sich selbst. Ein ewiges Dilemma.

Wie komme ich darauf eine HSP zu sein?

Vor einigen Jahren – meinen ersten Burn-out hatte ich schon hinter mir – saß ich zappend auf meiner Couch und blieb an einem Bericht hängen. Im Fernsehen war eine Frau zu sehen, die an einer stark befahrenen Kreuzung stand und sie beschrieb ihre Empfindungen. „Ja, so ist es bei mir auch!“, dachte ich. Vielleicht habe ich es sogar laut gesagt. Ich schaute den Bericht weiter und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Leider war der Beitrag schon bald zu Ende und ich fing an zu recherchieren, um mehr über Hochsensibilität zu erfahren. Die Frau aus dem Beitrag heißt Maria Anna Schwarzberg und hat sogar ein Buch über HSP geschrieben. Das war meine erste Begegnung mit dem Thema. Ich war überwältigt. Ich bin nicht allein! In den folgenden Tagen und Wochen recherchierte ich wie wild. Plötzlich begegnete es mir überall. Ich bestellte Bücher, las Online-Berichte, machte Selbsttests. Ja, ich bin eine HSP! Da stand es schwarz auf weiß. Ich hatte eine Lösung. Aber hatte ich die wirklich? Mein Anderssein hatte jetzt einen Namen – und nun? Dadurch ist nichts anders, oder doch? Ich ließ das Thema ruhen.

Nach Monaten oder vielleicht auch Jahren (diese Erinnerungsschwierigkeiten liegen vermutlich an meiner Depression), noch vor meinem zweiten Burn-out, beschäftigte mich das Thema erneut. Es folgten noch mehr Bücher, weitere Selbsttests und Gespräche unter anderem mit meiner besten Freundin. Leider erstmal nur am Telefon, weil uns drei Stunden Fahrt trennen. Sie war nicht überrascht – überhaupt nicht. Sie kannte das Thema sogar schon. Sie stimmte mir zu und ich war erleichtert. Dann sprach ich mit anderen darüber. Einige waren skeptisch, andere verständnisvoll. Es war wieder ein Auf und Ab in meiner Gefühlswelt.

Und wieder die Frage, was mache ich mit dieser Erkenntnis? Akzeptanz! Es ist immer noch keine Krankheit. Aber wie mache ich mir diese Eigenschaften zunutze? Kann ich meine Hochsensibilität im Beruf positiv einsetzen? Ich finde ja. Dazu möchte ich einen passenden Arbeitsplatz finden, wo man ein Stück weit Verständnis für diese kräftezehrenden Eigenschaften hat und diese auch gleichzeitig zu schätzen weiß. Wenn dazu noch Gehalt und Arbeitsklima passen, bleibt mir hoffentlich ein erneuter Burn-out erspart.

Fazit?

Ich lese mir das Geschriebene noch mal durch und finde, es klingt sehr negativ. Das war gar nicht meine Absicht. Aber ich bin ein Stimmungsmensch und als ich das hier schrieb, war kein guter Tag für mich. Ich hoffe, dass man mir das nachsieht und merke gleichzeitig, dass ich mich schon wieder rechtfertige. Mist! Egal!

Ich befinde mich auf einer Reise und habe schon so manche Zwischenstopps hinter mir. Ob jede:r diese Erfahrungen machen muss, weiß ich nicht. Vielleicht wird es leichter die eigene Hochsensibilität zu akzeptieren, da man sich besser informieren kann und das Thema HSP der Welt nicht mehr fremd ist. Alles muss ja irgendwie einen Namen haben. Auch wenn meine Hochsensibilität oft sehr schwer auf meiner Seele lastet, bin ich trotzdem froh, dass es so ist. Die Gespräche, Bücher und Selbsttests haben mir geholfen, eine Erklärung zu finden. Es ist keine Lösung, aber ein Anfang. Manchmal lese ich mir die Artikel und Bücher noch mal durch, schaue auf meine neue Punktzahl im Online-Test und fühle mich nicht mehr so allein.

Ich bin anders. Und das ist toll! Und ich weine – vor Freude!

Willkommen im Leben einer HSP!

Foto –––– ©  Pixabay / Anja

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